4. Bewußtseinslehre für die Mittelklasse
(1809 ff.)
Einleitung
§ 1
Unser gewöhnliches Wissen stellt sich nur den Gegenstand vor, den es weiß, nicht aber zugleich sich, nämlich das Wissen selbst. Das Ganze aber, was im Wissen vorhanden ist, ist nicht nur der Gegenstand, sondern auch Ich, der weiß, und die Beziehung meiner und des Gegenstandes aufeinander: das Bewußtsein.
§ 2
In der Philosophie werden die Bestimmungen des Wissens nicht einseitig nur als Bestimmungen der Dinge betrachtet, sondern zugleich mit dem Wissen, welchem sie wenigstens gemeinschaftlich mit den Dingen zukommen; oder sie werden genommen nicht bloß als objektive, sondern auch als subjektive Bestimmungen oder vielmehr als bestimmte Arten der Beziehung des Objekts und Subjekts aufeinander.
§ 3
Indem im Wissen die Dinge und ihre Bestimmungen sind, ist einerseits die Vorstellung möglich, daß dieselben an und für sich außer dem Bewußtsein sind und diesem schlechthin als ein Fremdes und Fertiges gegeben werden; andererseits aber, indem das Bewußtsein dem Wissen ebenso wesentlich ist, wird auch die Vorstellung möglich, daß das Bewußtsein diese seine Welt sich selbst setzt und die Bestimmungen derselben durch sein Verhalten und seine Tätigkeit ganz oder zum Teil selbst hervorbringe oder modifiziere. Die erstere Vorstellungsweise ist der Realismus, die andere der Idealismus genannt worden. Hier sind die allgemeinen Bestimmungen der Dinge nur überhaupt als bestimmte Beziehung vom Objekt auf das Subjekt zu betrachten.
§ 4
Das Subjekt, bestimmter gedacht, ist der Geist. Er ist erscheinend, als wesentlich auf einen seienden Gegenstand sich beziehend: insofern ist er Bewußtsein. Die Lehre vom Bewußtsein ist daher die Phänomenologie des Geistes. [>>>]
§ 5
Der Geist aber nach seiner Selbsttätigkeit innerhalb seiner selbst und in Beziehung auf sich, unabhängig von der Beziehung auf Anderes, wird in der eigentlichen Geisteslehre oder Psychologie betrachtet.
§ 6
Das Bewußtsein ist überhaupt das Wissen von einem Gegenstande, es sei ein äußerer oder innerer, ohne Rücksicht darauf, ob er sich ohne Zutun des Geistes ihm darbiete oder ob er durch diesen hervorgebracht sei. Nach seinen Tätigkeiten wird der Geist betrachtet, insofern die Bestimmungen seines Bewußtseins ihm selbst zugeschrieben werden.
§ 7
Das Bewußtsein ist die bestimmte Beziehung des Ich auf einen Gegenstand. Insofern man von dem Gegenstande ausgeht, kann gesagt werden, daß es verschieden ist nach der Verschiedenheit der Gegenstände, die es hat.
§ 8
Zugleich aber ist der Gegenstand wesentlich in dem Verhältnisse zum Bewußtsein bestimmt. Seine Verschiedenheit ist daher umgekehrt als abhängig von der Fortbildung des Bewußtseins zu betrachten. Diese Gegenseitigkeit geht in der erscheinenden Sphäre des Bewußtseins selbst vor und läßt die oben (§ 3) erwähnte Frage unentschieden, welche Bewandtnis es an und für sich mit diesen Bestimmungen habe.
§ 9
Das Bewußtsein hat im allgemeinen nach der Verschiedenheit des Gegenstandes überhaupt drei Stufen. Er ist nämlich entweder das dem Ich gegenüberstehende Objekt, oder er ist Ich selbst, oder etwas Gegenständliches, das ebensosehr dem Ich angehört, der Gedanke. Diese Bestimmungen sind nicht empirisch von außen aufgenommen, sondern Momente des Bewußtseins selbst. Es ist also:
1. Bewußtsein überhaupt,
2. Selbstbewußtsein,
3. Vernunft.
Text nach Rosenkranz (Zweiter Kursus, Erste Abteilung: "Phänomenologie des Geistes oder Wissenschaft des Bewußtseins", Werke Bd. XVIII S. 79 ff.)
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