§ 79 [71/72]
I. Antinomie über die Endlichkeit oder Unendlichkeit der Welt, der Zeit und dem Raume nach
a) Antinomie der Endlichkeit oder Unendlichkeit der Welt, der Zeit nach
Thesis: [Die Welt hat einen Anfang in der Zeit.
Beweis: Man nehme an, die Welt habe der Zeit nach keinen Anfang; so ist bis zu jedem gegebenen Zeitpunkt eine Ewigkeit abgelaufen und mithin eine unendliche Reihe aufeinander folgender Zustände der Dinge in der Welt verflossen. Die Unendlichkeit einer Reihe besteht aber darin, daß sie durch das sukzessive Zusammenfassen nicht vollendet sein kann. Also [ist] eine unendliche Weltreihe unmöglich, mithin ein Anfang der Welt in der Zeit notwendig.]
[Antithesis: Die Welt hat keinen Anfang in der Zeit und ist in der Zeit unendlich.
Beweis: Man setze, sie hätte einen Anfang, so wäre vor dem Anfange eine Zeit, worin sie nicht da wäre, - leere Zeit. In einer leeren Zeit kann aber nichts entstehen; denn es ist darin keine Bedingung des Daseins, und das Daseiende hat Daseiendes zur Bedingung oder ist nur von anderem Daseienden begrenzt. Also kann die Welt keinen Anfang haben, sondern jedes Dasein setzt ein anderes voraus und so fort ins Unendliche.]
§ 80 [73]
Die Beweise dieser Antinomie reduzieren sich kurz auf den direkten Gegensatz:
1. Die Welt ist der Zeit nach endlich oder hat eine Grenze; nämlich das Jetzt ist in dem Beweise der Thesis der gegenwärtige Augenblick, in welchem die Unendlichkeit abgelaufen, d. h. endlich wäre.
2. Das Dasein hat nicht an dem Nichtdasein, an der leeren Zeit eine Grenze, sondern nur an einem Dasein; die sich Begrenzenden sind auch positiv aufeinander bezogen, und eines hat zugleich dieselbe Bestimmung als das andere; indem also jedes Dasein durch ein anderes Dasein begrenzt ist und jedes zugleich ein endliches, d. h. ein solches, über welches hinausgegangen werden muß, so ist der Progreß ins Unendliche gesetzt. [am Rand:] Land begrenzt Land - Land durch Land, nicht durch Luft.
§ 81 [74]
Die wahrhafte Auflösung dieser Antinomie [ist], daß weder jene Grenze noch dies Unendliche für sich etwas Wahres ist; denn die Grenze ist ein solches, über das hinausgegangen werden muß; und dies Unendliche ist nur ein solches, dem die Grenze immer wieder entsteht und das über sie hinaus nur ein leeres Negatives ist. Die wahre Unendlichkeit ist die Reflexion-in-sich, und die Vernunft betrachtet nicht die zeitliche Welt, sondern die Welt in ihrem Wesen und Begriff.
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