I. Pflichten gegen sich
§ 41
Der Mensch als Individuum verhält sich zu sich selbst. Er hat die gedoppelte Seite seiner Einzelheit und seines allgemeinen Wesens. Seine Pflicht gegen sich ist insofern teils seine physische Erhaltung, teils, sein Einzelwesen zu seiner allgemeinen Natur zu erheben, sich zu bilden.
Der Mensch ist einerseits ein natürliches Wesen. Als solches verhält er sich nach Willkür und Zufall, als ein unstetes, subjektives Wesen. Er unterscheidet das Wesentliche nicht vom Unwesentlichen. - Zweitens ist er ein geistiges, vernünftiges Wesen. Nach dieser Seite ist er nicht von Natur, was er sein soll. Das Tier bedarf keiner Bildung, denn es ist von Natur, was es sein soll. Es ist nur ein natürliches Wesen. Der Mensch aber muß seine gedoppelte Seite in Übereinstimmung bringen, seine Einzelheit seiner vernünftigen Seite gemäß zu machen oder die letztere zur herrschenden zu machen. Es ist z. B. ungebildet, wenn der Mensch sich seinem Zorne überläßt und blind nach diesem Affekt handelt, weil er darin eine Beleidigung oder Verletzung für eine unendliche Verletzung ansieht und sie durch eine Verletzung des Beleidigers oder anderer Gegenstände ohne Maß und Ziel auszugleichen sucht. - Es ist ungebildet, wenn einer ein Interesse behauptet, das ihn nichts angeht oder wo er durch seine Tätigkeit nichts bewirken kann, weil man verständigerweise nur das zu seinem Interesse machen kann, wo man durch seine Tätigkeit etwas zustande bringt. - Ferner wenn der Mensch bei Begegnissen des Schicksals ungeduldig wird, so macht er sein besonderes Interesse zu einer höchst wichtigen Angelegenheit, als etwas, wonach sich die Menschen und die Umstände hätten richten sollen.
§ 42
Zur theoretischen Bildung gehört außer der Mannigfaltigkeit und Bestimmtheit der Kenntnisse und der Allgemeinheit der Gesichtspunkte, aus denen die Dinge zu beurteilen sind, der Sinn für die Objekte in ihrer freien Selbständigkeit, ohne ein subjektives Interesse.
Die Mannigfaltigkeit der Kenntnisse an und für sich gehört zur Bildung, weil der Mensch dadurch aus dem partikulären Wissen von unbedeutenden Dingen der Umgebung zu einem allgemeinen Wissen sich erhebt, durch welches er eine größere Gemeinschaftlichkeit der Kenntnisse mit anderen Menschen erreicht, in den Besitz allgemein interessanter Gegenstände kommt. Indem der Mensch über das, was er unmittelbar weiß und erfährt, hinausgeht, so lernt er, daß es auch andere und bessere Weisen des Verhaltens und Tuns gibt und die seinige nicht die einzig notwendige ist. Er entfernt sich von sich selbst und kommt zur Unterscheidung des Wesentlichen und Unwesentlichen. - Die Bestimmtheit der Kenntnisse betrifft den wesentlichen Unterschied derselben, die Unterschiede, die den Gegenständen unter allen Umständen zukommen. Zur Bildung gehört ein Urteil über die Verhältnisse und Gegenstände der Wirklichkeit. Dazu ist erforderlich, daß man wisse, worauf es ankommt, was die Natur und der Zweck einer Sache und der Verhältnisse zueinander sind. Diese Gesichtspunkte sind nicht unmittelbar durch die Anschauung gegeben, sondern durch die Beschäftigung mit der Sache, durch das Nachdenken über ihren Zweck und Wesen und über die Mittel, wie weit dieselben reichen oder nicht. Der ungebildete Mensch bleibt bei der unmittelbaren Anschauung stehen. Er hat kein offenes Auge und sieht nicht, was ihm vor den Füßen liegt. Es ist nur ein subjektives Sehen und Auffassen. Er sieht nicht die Sache. Er weiß nur ungefähr, wie diese beschaffen ist, und das nicht einmal recht, weil nur die Kenntnis der allgemeinen Gesichtspunkte dahin leitet, was man wesentlich betrachten muß, oder weil sie schon das Hauptsächliche der Sache selbst ist, schon die vorzüglichsten Fächer derselben enthält, in die man also das äußerliche Dasein sozusagen nur hineinzulegen braucht und also sie viel leichter und richtiger aufzufassen fähig ist.
Das Gegenteil davon, daß man nicht zu urteilen weiß, ist, daß man vorschnell über alles urteilt, ohne es zu verstehen. Ein solch vorschnelles Urteil gründet sich darauf, daß man wohl einen Gesichtspunkt faßt, aber einen einseitigen und dadurch also den wahren Begriff der Sache, die übrigen Gesichtspunkte übersieht. Ein gebildeter Mensch weiß zugleich die Grenze seiner Urteilsfähigkeit.
Ferner gehört zur Bildung der Sinn für das Objektive in seiner Freiheit. Es liegt darin, daß ich nicht mein besonderes Subjekt in dem Gegenstande suche, sondern die Gegenstände, wie sie an und für sich sind, in ihrer freien Eigentümlichkeit betrachte und behandle, daß ich mich ohne einen besonderen Nutzen dafür interessiere. - Ein solch uneigennütziges Interesse liegt in dem Studium der Wissenschaften, wenn man sie nämlich um ihrer selbst willen kultiviert. Die Begierde, aus den Gegenständen der Natur Nutzen zu ziehen, ist mit deren Zerstörung verbunden. - Auch das Interesse für die schöne Kunst ist ein uneigennütziges. Sie stellt die Dinge in ihrer lebendigen Selbständigkeit dar und streicht das Dürftige und Verkümmerte, wie sie von äußeren Umständen leiden, von ihnen ab. - Die objektive Handlung besteht darin, daß sie 1. auch nach ihrer gleichgültigen Seite die Form des Allgemeinen hat, ohne Willkür, Laune und Kaprice, vom Sonderbaren u. dgl. m. befreit ist; 2. nach ihrer inneren, wesentlichen Seite ist das Objektive, wenn man die wahrhafte Sache selbst zu seinem Zweck hat, ohne eigennütziges Interesse.
§ 43
Zur praktischen Bildung gehört, daß der Mensch bei der Befriedigung der natürlichen Bedürfnisse und Triebe diejenige Besonnenheit und Mäßigung beweise, welche in den Grenzen ihrer Notwendigkeit, nämlich der Selbsterhaltung liegt. Er muß 1. aus dem Natürlichen heraus, davon frei sein; 2. hingegen in seinen Beruf, das Wesentliche, muß er vertieft und daher 3. die Befriedigung des Natürlichen nicht nur in die Grenzen der Notwendigkeit einschränken, sondern sie auch höheren Pflichten aufzuopfern fähig sein.
Die Freiheit des Menschen von natürlichen Trieben besteht nicht darin, daß er keine hätte und also seiner Natur nicht zu entfliehen strebt, sondern daß er sie überhaupt als ein Notwendiges und damit Vernünftiges anerkennt und sie demgemäß mit seinem Willen vollbringt. Er findet sich dabei nur insofern gezwungen, als er sich zufällige und willkürliche Einfälle und Zwecke gegen das Allgemeine schafft. Das bestimmte, genaue Maß in Befriedigung der Bedürfnisse und im Gebrauch der physischen und geistigen Kräfte läßt sich nicht genau angeben, aber es kann jeder wissen, was ihm nützlich oder schädlich ist. Die Mäßigung in Befriedigung natürlicher Triebe und im Gebrauch körperlicher Kräfte ist überhaupt um der Gesundheit willen notwendig, denn diese ist eine wesentliche Bedingung für den Gebrauch der geistigen Kräfte zur Erfüllung der höheren Bestimmung des Menschen. Wird der Körper nicht in seinem ordentlichen Zustande erhalten, wird er in einer seiner Funktionen verletzt, so muß man ihn zum Zweck seiner Beschäftigung machen, wodurch er etwas Gefährliches, Bedeutendes für den Geist wird. - Ferner hat die Überschreitung des Maßes im Gebrauch der physischen und geistigen Kräfte entweder durch das Zuviel oder Zuwenig Abstumpfung und Schwäche derselben zur Folge.
Endlich ist die Mäßigkeit mit der Besonnenheit verbunden. Diese besteht im Bewußtsein über das, was man tut, daß der Mensch im Genuß oder in der Arbeit durch seine Reflexion sich überschaut und also diesem einzelnen Zustande nicht ganz hingegeben ist, sondern offen bleibt für die Betrachtung von anderem, was auch noch notwendig sein kann. Bei der Besonnenheit ist man aus seinem Zustande, der Empfindung oder des Geschäfts, zugleich mit dem Geist heraus. Diese Stellung, sich in seinen Zustand nicht vollkommen zu vertiefen, ist überhaupt bei zwar notwendigen, aber dabei nicht wesentlichen Trieben und Zwecken erforderlich. Hingegen bei einem wahrhaften Zweck oder Geschäft muß der Geist mit seinem ganzen Ernst gegenwärtig und nicht zugleich außerhalb desselben sein. Die Besonnenheit besteht hier darin, daß man alle Umstände und Seiten der Arbeit vor Augen hat.
§ 44
Was den bestimmten Beruf betrifft, der als ein Schicksal erscheint, so ist überhaupt die Form einer äußerlichen Notwendigkeit daran aufzuheben. Es ist mit Freiheit zu ergreifen und mit solcher auszuhalten und auszuführen.
Der Mensch, in Rücksicht auf die äußerlichen Umstände des Schicksals und alles, was er überhaupt unmittelbar ist, muß sich so verhalten, daß er dasselbe zu dem seinigen macht, daß er ihm die Form eines äußerlichen Daseins benimmt. Es kommt nicht darauf an, in welchem äußerlichen Zustande der Mensch sich durch das Schicksal befindet, wenn er das, was er ist, recht ist, d. h. wenn er alle Seiten seines Berufs ausfüllt. Der Beruf zu einem Stande ist eine vielseitige Substanz. Er ist gleichsam ein Stoff oder Material, das er nach allen Richtungen hin durcharbeiten muß, damit dasselbe nichts Fremdes, Sprödes und Widerstrebendes in sich hat. Insofern ich es vollkommen zu dem Meinigen für mich gemacht habe, bin ich frei darin. Der Mensch ist vorzüglich dadurch unzufrieden, wenn er seinen Beruf nicht ausfüllt. Er gibt sich ein Verhältnis, das er nicht wahrhaft als das seinige hat. Zugleich gehört er diesem Stande an. Er kann sich nicht von ihm losmachen. Er lebt und handelt also in einem widerwärtigen Verhältnis mit sich selbst.
§ 45
Treue und Gehorsam in seinem Beruf sowie Gehorsam gegen das Schicksal und Selbstvergessenheit in seinem Handeln haben zum Grunde das Aufgeben der Eitelkeit, des Eigendünkels und der Eigensucht gegen das, was an und für sich und notwendig ist.
Der Beruf ist etwas Allgemeines und Notwendiges und macht irgendeine Seite des menschlichen Zusammenlebens aus. Er ist also ein Teil des ganzen Menschenwerkes. Wenn der Mensch einen Beruf hat, tritt er zu dem Anteil und Mitwirken an dem Allgemeinen ein. Er wird dadurch ein Objektives. Der Beruf ist zwar eine einzelne, beschränkte Sphäre, macht jedoch ein notwendiges Glied des Ganzen aus und ist auch in sich selbst wieder ein Ganzes. Wenn der Mensch etwas werden soll, so muß er sich zu beschränken wissen, d. h. seinen Beruf ganz zu seiner Sache machen. Dann ist er keine Schranke für ihn. Er ist alsdann einig mit sich selbst, mit seiner Äußerlichkeit, seiner Sphäre. Er ist ein Allgemeines, Ganzes. - Wenn der Mensch sich etwas Eitles, d. h. Unwesentliches, Nichtiges zum Zweck macht, so liegt hierbei nicht das Interesse an einer, sondern an seiner Sache zugrunde. Das Eitle ist nichts an und für sich Bestehendes, sondern wird nur durch das Subjekt erhalten. Der Mensch sieht darin nur sich selbst; z. B. es kann auch eine moralische Eitelkeit geben, wenn der Mensch überhaupt bei seinem Handeln sich seiner Vortrefflichkeit bewußt ist und das Interesse mehr an sich als an der Sache hat. - Der Mensch, der geringe Geschäfte treu erfüllt, zeigt sich fähig zu größeren, weil er Gehorsam gezeigt hat, ein Aufgeben seiner Wünsche, Neigungen und Einbildungen.
§ 46
Durch die intellektuelle und moralische Bildung erhält der Mensch die Fähigkeit, die Pflichten gegen andere zu erfüllen, welche Pflichten reale genannt werden können, dahingegen die Pflichten, die sich auf die Bildung beziehen, mehr formeller Natur sind.
§ 47
Insofern die Erfüllung der Pflichten mehr als subjektives Eigentum eines Individuums erscheint und mehr seinem natürlichen Charakter angehört, ist sie Tugend.
§ 48
Weil die Tugend zum Teil mit dem natürlichen Charakter zusammenhängt, so erscheint sie als eine Moralität von bestimmter Art und von größerer Lebendigkeit und Intensität. Sie ist zugleich weniger mit dem Bewußtsein der Pflicht verknüpft als die eigentliche Moralität.
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