Zweites Kapitel: Die Staatsgesellschaft
§ 22
Der Rechtsbegriff als die Gewalt habende, von Triebfedern der Einzelheit unabhängige Macht hat nur in der Staatsgesellschaft Wirklichkeit.
§ 23
Die Familie ist die natürliche Gesellschaft, deren Glieder durch Liebe, Vertrauen und natürlichen Gehorsam (Pietät) verbunden sind.
Die Familie ist eine natürliche Gesellschaft erstens, weil jemand einer Familie nicht durch seinen Willen, sondern durch die Natur als Mitglied angehört, und zweitens, weil die Verhältnisse und das Benehmen der Mitglieder zueinander nicht sowohl auf Überlegung und Entschluß, sondern auf Gefühl und Trieb beruhen. Die Verhältnisse sind notwendig und vernünftig, aber es fehlt die Form der bewußten Einsicht. Es ist mehr Instinkt. Die Liebe der Familienmitglieder beruht darauf, daß mein Ich mit dem anderen einzelnen Ich eine Einheit ausmacht. Sie betrachten sich gegeneinander nicht als Einzelne. Die Familie ist ein organisches Ganzes. Die Teile sind eigentlich nicht Teile, sondern Glieder, die ihre Substanz nur in dem Ganzen haben und welchen, getrennt von dem Ganzen, die Selbständigkeit fehlt. Das Vertrauen, das die Familienglieder zueinander haben, besteht darin, daß jeder nicht ein Interesse für sich hat, sondern überhaupt für das Ganze. Der natürliche Gehorsam innerhalb der Familie beruht darauf, daß in diesem Ganzen nur ein Wille ist, welcher nämlich dem Oberhaupte zukommt. Insofern macht die Familie nur eine Person aus. (Nation.)
§ 24
Der Staat ist die Gesellschaft von Menschen unter rechtlichen Verhältnissen, worin sie nicht wegen eines besonderen Naturverhältnisses nach natürlichen Neigungen und Gefühlen, sondern als Personen füreinander gelten und diese Persönlichkeit eines jeden mittelbar behauptet wird. Wenn eine Familie sich zur Nation erweitert hat und der Staat mit der Nation in eins zusammenfällt, so ist dies ein großes Glück.
Ein Volk hängt durch Sprache, Sitten und Gewohnheit und Bildung zusammen. Dieser Zusammenhang aber formiert noch keinen Staat. Ferner sind Moralität, Religion, Wohlstand und Reichtum aller seiner Bürger zwar sehr wichtig für den Staat, er muß auch Sorge tragen zur Beförderung dieser Umstände; aber sie machen für ihn nicht den unmittelbaren Zweck aus, sondern das Recht.
§ 25
Der Naturzustand ist der Stand der Roheit, Gewalt und Ungerechtigkeit. Die Menschen müssen aus einem solchen in die Staatsgesellschaft treten, weil nur in ihr das rechtliche Verhältnis Wirklichkeit hat.
Der Naturzustand pflegt häufig als ein vollkommener Zustand des Menschen geschildert zu werden, sowohl nach der Glückseligkeit als nach der sittlichen Güte. Fürs erste ist zu bemerken, daß die Unschuld als solche keinen moralischen Wert hat, insofern sie Unwissenheit des Bösen ist und auf dem Mangel von Bedürfnissen beruht, unter welchen Böses geschehen kann. Zweitens ist dieser Zustand vielmehr ein Zustand der Gewalt und des Unrechts, eben weil die Menschen sich in ihm nach der Natur betrachten. Nach dieser aber sind sie ungleich, sowohl in Rücksicht auf körperliche Kräfte als auf geistige Anlagen, und machen ihren Unterschied durch Gewalt und List gegeneinander geltend. Vernunft ist zwar auch im Naturzustande, aber das Natürliche ist das Herrschende. Die Menschen müssen daher aus ihm in einen Zustand übergehen, in welchem der vernünftige Wille das Herrschende ist.
§ 26
Das Gesetz ist der abstrakte Ausdruck des allgemeinen an und für sich seienden Willens.
Das Gesetz ist der allgemeine Wille, insofern er es nach der Vernunft ist. Es ist dabei nicht notwendig, daß jeder Einzelne bloß durch sich diesen Willen gewußt oder gefunden habe. Auch ist nicht nötig, daß jeder Einzelne seinen Willen erklärt hatte und dann daraus ein allgemeines Resultat gezogen wurde. Es ist deswegen in der wirklichen Geschichte auch nicht so zugegangen, daß jeder einzelne Bürger eines Volkes ein Gesetz vorgeschlagen hätte und dann durch gemeinschaftliche Beratung mit den anderen über das Gesetz übereingekommen wäre. Das Gesetz enthält die Notwendigkeit der rechtlichen Verhältnisse gegeneinander. Die Gesetzgeber haben nicht willkürliche Satzungen gegeben. Es sind nicht Bestimmungen ihres besonderen Beliebens, sondern sie haben durch ihren tiefen Geist erkannt, was die Wahrheit und das Wesen eines rechtlichen Verhältnisses ist.
§ 27
Die Regierung ist die Individualität des an und für sich seienden Willens. Sie ist die Macht, die Gesetze zu geben und zu handhaben oder zu vollstrecken.
Der Staat hat Gesetze. Diese sind also der Wille in seinem allgemeinen abstrakten Wesen, das als solches untätig ist, - wie Grundsätze, Maximen nur erst das Allgemeine des Wollens, noch nicht ein wirkliches Wollen ausdrücken oder enthalten. Zu diesem Allgemeinen ist nur die Regierung der tätige und verwirklichende Wille. Das Gesetz hat wohl als Sitte, als Gewohnheit Bestehen, aber die Regierung ist die bewußte Macht der bewußtlosen Gewohnheit.
§ 28
Die allgemeine Staatsgewalt enthält verschiedene besondere Gewalten unter sich subsumiert: 1. die gesetzgebende überhaupt; 2. die administrative und finanzielle, sich die Mittel zur Verwirklichung der Freiheit zu schaffen; 3. die (unabhängige) richterliche und polizeiliche; 4. die militärische und die Gewalt, Krieg zu führen und Frieden zu schließen.
Die Art der Verfassung hängt vornehmlich davon ab, ob diese besonderen Gewalten unmittelbar von dem Mittelpunkt der Regierung ausgeübt werden; ferner ob mehrere davon in einer Autorität vereinigt oder aber ob sie getrennt sind, z. B. ob der Fürst oder Regent selbst unmittelbar Recht spricht oder ob eigene, besondere Gerichtshöfe angeordnet sind, ferner ob der Regent auch die kirchliche Gewalt in sich vereinigt usf. Es ist auch wichtig, ob in einer Verfassung der oberste Mittelpunkt der Regierung die Finanzgewalt in unbeschränktem Sinne in Händen hat, daß er Steuern ganz nach seiner Willkür sowohl auflegen als verwenden kann. Ferner ob mehrere Autoritäten in einer vereinigt sind, z. B. ob in einem Beamten die richterliche und die militärische Gewalt vereint sind. Die Art einer Verfassung ist ferner dadurch bestimmt, ob alle Bürger, insofern sie Bürger sind, Anteil an der Regierung haben. Eine solche Verfassung ist eine Demokratie. Die Ausartung derselben ist die Ochlokratie oder die Herrschaft des Pöbels, wenn nämlich derjenige Teil des Volkes, der kein Eigentum hat und von unrechtlichen Gesinnungen ist, die rechtlichen Bürger mit Gewalt von Staatsgeschäften abhält. Nur bei einfachen, unverdorbenen Sitten und einem kleinen Umfange des Staates kann eine Demokratie stattfinden und sich erhalten. - Die Aristokratie ist die Verfassung, in welcher nur einige gewisse privilegierte Familien das ausschließende Recht zur Regierung haben. Die Ausartung derselben ist die Oligarchie, wenn nämlich die Anzahl der Familien, die das Recht zur Regierung haben, von kleiner Anzahl ist. Ein solcher Zustand ist deswegen gefährlich, weil in einer Oligarchie alle besonderen Gewalten unmittelbar von einem Rat ausgeübt werden. - Die Monarchie ist die Verfassung, in welcher die Regierung in den Händen eines Einzelnen ist und erblich in einer Familie bleibt. In einer Erbmonarchie fallen die Streitigkeiten und bürgerlichen Kriege weg, die in einem Wahlreich bei einer Thronveränderung stattfinden können, weil der Ehrgeiz mächtiger Individuen sich keine Hoffnung zum Thron machen kann. Auch kann der Monarch die ganze Regierungsgewalt nicht unmittelbar ausüben, sondern vertraut einen Teil der Ausübung der besonderen Gewalten, Kollegien oder auch Reichsständen an, die im Namen des Königs, unter seiner Aufsicht und Leitung, die ihnen übertragene Gewalt nach Gesetzen ausüben. In einer Monarchie ist die bürgerliche Freiheit mehr geschützt als in anderen Verfassungen. Die Ausartung der Monarchie ist der Despotismus, wenn nämlich der Regent nach seiner Willkür die Regierung unmittelbar ausübt. Der Monarchie ist es wesentlich, daß die Regierung gegen das Privatinteresse der Einzelnen Nachdruck und gehörige Gewalt hat. Aber auf der andern Seite müssen auch die Rechte der Bürger durch Gesetze geschützt sein. Eine despotische Regierung hat zwar die höchste Gewalt, aber in einer solchen Verfassung werden die Rechte der Bürger aufgeopfert. Der Despot hat zwar die größte Gewalt und kann die Kräfte seines Reichs nach Willkür gebrauchen, aber dieser Standpunkt ist auch der gefährlichste. - Die Regierungsverfassung eines Volkes ist nicht bloß eine äußerliche Einrichtung. Ein Volk kann ebensogut diese als eine andere Verfassung haben. Sie hängt wesentlich von dem Charakter, den Sitten, dem Grade der Bildung, seiner Lebensart und seinem Umfange ab.
§ 29
Der Staatsgewalt sind die Bürger als Einzelne unterworfen und gehorchen derselben. Der Inhalt und Zweck derselben aber ist die Verwirklichung der natürlichen, d. h. absoluten Rechte der Bürger, welche im Staat darauf nicht Verzicht tun, vielmehr zum Genuß und zur Ausbildung derselben allein in ihm gelangen.
§ 30
Die Staatsverfassung bestimmt als inneres Staatsrecht das Verhältnis der besonderen Gewalten sowohl zur Regierung, ihrer obersten Vereinigung, als zueinander sowie das Verhältnis der Bürger dazu oder ihren Anteil daran.
§ 31
Das äußere Staatsrecht betrifft das Verhältnis selbständiger Völker durch deren Regierungen zueinander und beruht vornehmlich auf besonderen Verträgen, - Völkerrecht
Die Staaten befinden sich mehr in einem natürlichen als rechtlichen Verhältnis zueinander. Es ist deswegen unter ihnen ein fortdauernder Streit vorhanden, so daß sie Verträge untereinander schließen und sich dadurch in ein rechtliches Verhältnis gegeneinander setzen. Auf der andern Seite aber sind sie ganz selbständig und unabhängig voneinander. Das Recht ist daher zwischen ihnen nicht wirklich. Sie können also die Verträge willkürlich brechen und müssen sich darüber immer in einem gewissen Mißtrauen gegeneinander befinden. Als Naturwesen verhalten sie sich zueinander nach der Gewalt, daß sie sich selbst in ihrem Recht erhalten, sich selbst Recht schaffen müssen und also dadurch miteinander in Krieg geraten.
|